Gretes Wandlung und Abwendung vom Bruder
Nach der Verwandlung verliert Gregor jedoch zunehmend Einfluss auf seine Schwester. Sie bringt ihm zwar noch Essen und zeigt somit Verantwortungsgefühl, jedoch ist diese Fürsorge der erste Schritt in ihre Selbstständigkeit. Zu Beginn beansprucht sie die gesamte Versorgung Gregors für sich und sieht darin ihre erste wahre Aufgabe, da sie bisher eher nutzlos war.
Mit dem Wandel von der untätigen Tochter zur Pflegerin Gregors gewinnt sie jedoch Ansehen und Einfluss innerhalb der Familie und entwickelt dabei mehr Selbstvertrauen.
Die Art mit Gregor umzugehen, ähnelt dabei eher dem Verhalten gegenüber einem Haustier. Bei der ersten Begegnung mit ihm schreckt sie angeekelt zurück und flieht aus dem Zimmer. Des Weiteren weigert sie sich, seinen Napf mit bloßen Händen anzufassen. Schließlich ist sie diejenige, welche die Isolierung Gregors gegen den Willen der Mutter vorantreibt. Sie schlägt vor, sein Zimmer auszuräumen, um ihm angeblich mehr Bewegungsfreiheit zu verschaffen, doch die Mutter durchschaut die wahre Motivation der Schwester- das Vergessen der menschlichen Vergangenheit Gregors mittels dem Berauben seiner Einrichtungsgegenstände, da dieses Zimmer für ein Wesen mit menschlichen Gefühlen unbewohnbar wäre.
So verschwindet die anfängliche Sorge der Schwester um Gregor zunehmend und je lästiger ihr die Versorgungsarbeit wird. Gregor sieht seine Schwester jedoch anfangs als sehr fürsorglich und opferbereit und ist der Meinung, sie kümmere sich rührend um ihn. Doch die Gesten der Schwester sprechen eine andere Sprache: „Außerdem stellte sie zu dem allen noch den wahrscheinlich ein für allemal für Gregor bestimmten Napf, in den sie Wasser gegossen hatte. Und aus Zartgefühl, da sie wusste, dass Gregor vor ihr nicht essen würde, entfernte sie sich eiligst und drehte sogar den Schlüssel um, damit nur Gregor merken könne, dass er es sich so behaglich machen dürfe, wie er wolle.“ (S. 22; Z. 20ff.)
Der Erzähler lässt offen, warum Gregor einen eigenen Napf bekommt, die Schwester das Zimmer eiligst verlässt und abschließt oder durch das Zimmer läuft, um sofort das Fenster aufzureißen, als ersticke sie fast. Doch die Summierung der Einzelheiten lässt den Leser keineswegs zu einem so nachsichtigen Urteil wie das Gregors kommen, denn während er glaubt, seine Schwester sähe in ihm ein vollwertiges Familienmitglied, ist der Ausgrenzungsprozess bereits in vollem Gange. Dafür muss Gregor allerdings als Tier empfunden werden und deshalb wehrt sich Gregor so immens dagegen, die Wahrheit der zunehmenden Ablehnung zu erkennen.
Die schwere Störung der Bruder- Schwester- Beziehung zeigt sich auch darin, dass Grete ihren Bruder nie direkt anspricht und nur im Zorn seinen Vornamen gebraucht. So ist es ebenfalls die Schwester, welche die Verdinglichung Gregors mit dem Benutzen des Personalpronomens „es“ einführt, was ihren Entfremdungs- und Ablösungsprozess von Gregor, der für sie bereits alle menschlichen Züge verloren hat, verdeutlicht.
Nach Gregors Tod fühlt Grete sich erleichtert, als würde eine schwere Last von ihr fallen und auch die Eltern teilen die Erleichterung der Tochter.
Mit der vollkommenen Befreiung Gretes vom Einfluss ihres Bruders hat auch ihr körperlicher Reifungsprozess vom Kind zur jungen Frau einen vorläufigen Abschluss gefunden, denn die Eltern meinen, sie sei zu einem schönen, üppigen Mädchen aufgeblüht.
Mit Gregors Tod ist die letzte Hemmschwelle aus dem Weg geräumt und sie kann ihre Persönlichkeit nun vollends entfalten. Folglich denken die Eltern sogar daran, einen Ehemann für sie zu suchen- die Verdeutlichung ihres Eintritts in das Reich der Erwachsenen.
Kafka musste im Oktober 1912 selbst die Erfahrung machen, dass seine Lieblingsschwester Ottla, die sonst immer gegen den Vater zu ihm gehalten hatte, sich auf die Seite der Familie schlug und Ottlas Aufforderung, sich mehr um das Familienunternehmen zu kümmern, sah Kafka als Verrat an und die Kritik ließ ihn sogar an Selbstmord denken.


von Linda Krause


 


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