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Die Stufen der Verwandlung |
Die anfänglichen böswilligen Unterstellung des Prokuristen, Gregor würde seine Aufgaben nicht hinreichend erfüllen, zu wenig Aufträge einbringen und keine Verantwortung für seinen Beruf übernehmen, erfüllt Gregor als Käfer nun vollends. Er ist vom erfolglosen Handelsreisenden zum nutzlosen Käfer geworden, was sich auch in seinem Verhalten niederschlägt: Er verliert die Sprache, bevorzugt vergammeltes Essen, sein menschliches Sehvermögen nimmt ab und er bevorzugt Zerstreuung durch Herumkrabbeln an den Wenden oder Herabfallen von der Decke. Seine Denkvorgänge im Bezug auf Arbeit oder bezüglich der Reaktion seiner Mitmenschen entsprechen jedoch noch denen eines Menschen und wichtige menschliche Empfindungen und Wesenszüge wie etwa das Einfühlungsvermögen gegenüber der Familie, Rücksichtnahme und das Schämen für seine Gestalt und der damit verbundene erwünschte Rückzug bleiben jedoch erhalten.
Doch folgt Gregor zunehmend auch stärker seinen Instinkten: Als sein Zimmer ausgeräumt wird, verlässt er sein Versteck, kriecht verstört im Zimmer herum und schützt das Bild der Pelzdame. Die schwere Verletzung Gregors durch die Apfelwürfe des Vaters verdeutlichen Gregors Ausschluss aus der nur seine tierische Existenz akzeptierende Familie.
Vor seiner Schwester versteckt er sich nun nicht mehr, sondern stellt sich vorwurfsvoll in die schmutzigen Ecken und die schlechte Versorgung versetzt ihn immer mehr in Wut, so dass er sich überlegt, die Speisekammer zu stürmen. Schließlich eröffnet ihm das Violinenspiel der Schwester einen völlig neuen Horizont. Hingegen zu früheren Zeiten, als er sich nicht viel aus der Musik seiner Schwester machte, fühlt er sich nun als Tier von ihr gerührt und sie löst ein verbotenes Begehren gegenüber der Schwester aus. So sieht er die Zimmerherren als Konkurrenz im Kampf um seine Schwester. Auch ist es kein Zufall, dass dies gerade durch die Musik in Gang gesetzt wird, denn diese galt schon in der Romantik als die Kunst, welche die Menschen am ehesten zu seinen verborgenen Wünschen und Begierden zurückführt.
Kafka beschreibt so die Annäherung Gregors an seine Schwester ähnlich wie im Falle der Pelzdame mit einem doppeldeutigen Unterton: Gregor will ihrem Blick begegnen, erhofft sich von ihr eine unbekannte, ersehnte Nahrung, will sie mit in sein Zimmer nehmen, um sie vor den anderen zu verteidigen und ihren nackten Hals küssen. Die Erotik dieser Szene ist somit unübersehbar und mit dem Hintergrundwissen, dass Kafka sich zu dieser Zeit mit der Thematik des Geschwisterinzests befasst hat, macht sie auch Sinn. So schreibt er in einem Tagebucheintrag vom 15. 9. 1912: „Liebe zwischen Bruder und Schwester- die Wiederholung der Liebe zwischen Mutter und Vater.“
Allerdings bedient sich der sensible Literat an dieser Stelle auch der Ironie, da er den Mensch, welcher seine menschliche Identität aufgrund von Nützlichkeit im Arbeitsprozess erwiesen hat, nun in nutzloser Tiergestalt ein bisher unbekanntes Menschsein erfährt, für welches die Musik und Sehnsucht nach unbekannter Nahrung als Sinnbild stehen.
Kafka entwickelt eine deutlich satirische Perspektive, denn es drängt sich die Frage auf, was es doch für eine Welt ist, in der ein Mensch erst zum Tier werden muss, um zu erfahren, was Mensch und Tier traditionsgemäß unterscheidet. Die Ironie zeigt sich auch in der Komposition der Szene, denn während sich Gregor selbst als Menschen identifiziert, wird er zugleich von seiner Schwester als Untier definiert. (siehe Anhang 5)
von Linda Krause
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